PROLOG

Sie wussten, dass die Zeit, in der dieser Planet ihre Heimat gewesen war, sich dem Ende entgegen neigte. Schon vor mehreren hundert Jahren hatten ihre Wissenschaftler dies berechnet. So konnten sie sich darauf vorbereiten, planen, forschen und entscheiden, was sie tun würden, wenn es so weit war. Dank ihrer Technologie waren sie in der Lage gewesen, den Forschern den benötigten Aufschub zu verschaffen. Manche der Wissenschaftler gingen sogar so weit zu behaupten, auch mit X0-12113 fertig zu werden, dem Asteroiden, der ihnen laut Berechnung die Heimat nehmen würde. Seit seiner Entdeckung vor tausend Jahren hatten sich die fähigsten Wissenschaftler mit möglichen Lösungen beschäftigt. Während eine Gruppe an Möglichkeiten arbeitete, wie X0-12113 zerstört oder zumindest in eine ausreichend abweichende Flugbahn gebracht werden konnte, um für ihren Planeten keine Gefahr mehr darzustellen, forschten andere Teams an vielversprechenden Alternativen. Eine bestand darin, sich auf einem neuen Planeten eine zweite Heimat aufzubauen.
    Hundert Jahre vor dem errechneten Eintreten von X0-12113 in ihr Sternensystem, hatte sich die Gruppe der führenden Wissenschaftler in zwei Fraktionen gespalten. Die eine vertrat den Standpunkt, sie hätten solche technischen Fortschritte erzielt, dass es nicht länger notwendig sei, ihre angestammte Heimat aufzugeben. Die andere betrachtete die Besiedlung eines sicheren, neuen Planeten als bessere Option. Da ein Großteil der Bevölkerung sich ihrem Heimatplaneten verbunden fühlte, blieben sie trotz des Risikos. Nur ein geringer Anteil entschied, sich auf den Flug zu ihrer neuen Heimat zu begeben.
    Die Erbauer der neuen Zivilisation waren stolz, nicht nur überlebt zu haben, sondern auch dazu beizutragen, das Fundament für die neue Gesellschaft zu gründen. Aufgrund der schwierigen Umstände, in denen sich die Welt befand, dauerte es jedoch mehrere Jahrhunderte, bis sich die neue Gesellschaftsform stabilisiert und etabliert hatte. Natürlich gab es, wie bei allen tiefgreifenden Umbrüchen, auch beim Erschaffen dieser neuen Ordnung anfangs noch vereinzelten Widerstand, der jedoch mit unnachgiebiger Entschlossenheit verfolgt und mit extremer Härte niedergeschlagen wurde. Nahezu alles, was an die alte, vergangene Epoche erinnerte, wurde vernichtet und aus den öffentlichen Quellen und somit auch aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt. Doch wie stets ließ sich auch diesmal die Vergangenheit nicht restlos auslöschen und einigen wenigen gelang es, die Erinnerung an frühere Zeiten so zu verwahren, dass sie dereinst von denjenigen wiederentdeckt werden konnte, die nach der verlorenen Geschichte suchten.
 
EINS

Camil war einer der angesehensten Wissenschaftler innerhalb des Reproduktionsbereichs, was niemanden verwunderte, da der frühere Leiter des Instituts höchstpersönlich für seine Erzeugung gesorgt hatte. Es war nicht ungewöhnlich, dass der Patriarch eines bestimmten Bereichs selbst einen entsprechenden Erben, auch Inherit genannt, erschuf oder erschaffen ließ, der sein Nachfolger wurde und das Begonnene fortführen und bewahren würde. Auf diese Weise wurde Kontinuität gewährleistet und sichergestellt, dass die Arbeit nach dem Ableben oder Ausscheiden des vorherigen Amtsinhabers, von sowohl öffentlichen wie auch privaten Einrichtungen, von einem neuen Würdenträger gleichermaßen gut fortgesetzt wurde. Zusätzlich zu ihrem genetischen Erbe bildeten die Patriarchen ihre Nachfolger auch selbst aus, so dass diese bereits in jungen Jahren mit deren Denkweisen und Prinzipien vertraut wurden.
    Obwohl sich Camil auf einen anderen Zweig innerhalb des Hauptbereichs seines Erzeugers spezialisiert hatte, stand es dennoch außer Frage, dass er eines Tages selbst die Leitung des Medizinischen Instituts übernehmen würde. Doch bis es soweit war und er den Überblick über sämtliche Bereiche bewahren musste, konnte er sich vollkommen auf sein Spezialgebiet konzentrieren. Durch seine Arbeit innerhalb der letzten Dekade war das Ansehen des Instituts noch weiter gestiegen, was ihnen zusätzliche Aufträge, auch aus weiter entfernt liegenden Regionen, eingebracht hatte. Inzwischen hatte sich Camils Abteilung den Ruf erworben, nahezu jeden Wunsch erfüllen zu können - so sonderbar und ungewöhnlich dieser auch sein mochte.
    Während Camil die Aufträge der letzten Woche durchging und sie nach Schwierigkeitsgrad ordnete, trat Marnak, einer der Wissenschaftler seines Hauptteams, zu ihm und legte ihm einen Briefumschlag auf den Schreibtisch. Der Briefumschlag bestand aus Spezialpapier, das im Grunde ein flexibler Datenträger war, der sowohl Informationen speicherte als auch visuell darstellte. Camil achtete nicht weiter darauf, sondern konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Liste.
    „Bist du gar nicht neugierig zu erfahren, was drinsteht?“, riss ihn Marnak aus seiner Arbeit. Um das Gesagte zu unterstreichen, wedelte er mit dem Briefumschlag vor Camils Gesicht herum, so dass dieser sich genervt zurücklehnte und zu seinem Kollegen aufsah.
    „Eigentlich nicht, aber du scheinst es zu sein“, erwiderte Camil, während er nach dem Briefumschlag griff und ihn auseinanderfaltete. Um die Nachricht lesen zu können, musste er einen mehrstelligen Autorisierungscode eingeben und zusätzlich eine geheime Frage beantworten. Üblicherweise wurden Nachrichten nur noch digital übermittelt und direkt im Postfach des Empfängers angezeigt, doch in manchen Kreisen hielt sich beständig eine gewisse Form der Nostalgie, die sich darin zeigte, dass sie Nachrichten noch auf physischen, papierähnlichen Datenträgern überbrachten.
    Wie erwartet wurde die Nachricht in einer Schriftart angezeigt, die eine Handschrift simulierte und teilweise entsprechend unleserlich war. Camil seufzte, er hielt nicht besonders viel davon, unnötig Zeit durch solcherlei überflüssige Spielchen zu verschwenden, vor allem nicht, wenn es sich dabei um seine eigene Zeit handelte. Laut Nachricht wurde er hiermit offiziell auf die Jubiläumsfeier eines reichen Industriellen eingeladen, Übernachtung im exklusiven Hotel inbegriffen, der es sehr schätzen würde, Camil kennenzulernen, da er bereits viel von ihm gehört hatte. Dezent ließ der Gastgeber außerdem durchblicken, dass Camil es mit Sicherheit nicht bereuen und es sich für ihn - und das Institut - lohnen würde.
    Camil legte das DigiPaper vor sich auf den Schreibtisch und dachte nach. Das Institut war finanziell unabhängig und nicht auf „Spenden“ angewiesen, da es sich über seine Aufträge selbst finanzierte. Es benötigte demzufolge keine reichen Gönner, um in den für das Institut wichtigen Bereichen forschen zu können. Anders lag es natürlich bei Sonderwünschen. In der Vergangenheit war es bisher erst ein- oder zweimal vorgekommen, dass ein Kunde eine bestimmte Leistung erbracht haben wollte, die außerhalb des aktuellen Kenntnisstandes des Instituts lag. In diesen Fällen erklärte sich das Institut dazu bereit, ein Forschungsteam zu gründen, um zu versuchen, das Anliegen des Kunden zu erfüllen - sofern das Institut nach eingängiger Prüfung zu dem Schluss gelangt war, dass die Forschung selbst auch für das Institut von Nutzen sein würde. Sobald dem Kunden seine Liquidität nachgewiesen worden war und er sich für die volle Kostenübernahme inklusive Ausfallszahlungen während der Dauer des Forschungszeitraums verpflichtet hatte, stellte das Institut ein Team bereit, das sich ganz dem Anliegen des Kunden widmete.
    Je nach Alter des Auftraggebers und des Forschungszeitraums konnte es passieren, dass die Ergebnisse nicht mehr rechtzeitig für den Kunden erzielt werden konnten. Um sich gegen eventuelle Klagen abzusichern, beinhaltete der Vertrag deshalb ausdrücklich eine Klausel, die dem Institut in jedem Fall mindestens 60 bis 80 % der vereinbarten Vergütung zusicherte, selbst dann, wenn der Auftraggeber noch während der Forschungsdauer verstarb oder aus anderen Gründen das Endergebnis nicht mehr nutzen konnte. Das Institut ging dabei kein Risiko ein und die Auftraggeber konnten, wenn sie erst einmal zugestimmt hatten, ihren Auftrag nicht mehr zurückziehen. Soweit Camil bekannt war, beruhte die finanzielle Unabhängigkeit des Instituts nicht zuletzt auf eben solch einem Vertrag, bei dem das Institut in den Besitz einer großen Summe Vermögens gelangt war, auf dem es seitdem aufbauen konnte.
    Marnak stand noch immer neben Camil, darauf wartend, dass dieser ihm endlich den Inhalt der Nachricht verriet, doch Camil schien ihn vergessen zu haben und nur seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Gerade, als Marnak Camil darauf ansprechen wollte, wandte dieser sich ihm zu.
    „Ich bin auf die Jubiläumsfeier eines Industriellen eingeladen worden“, klärte Camil Marnak schließlich auf. Einen Moment sahen sich die beiden schweigend an.
    „Und du hast absolut keine Lust, dich dort blicken zu lassen“, ergänzte Marnak nun. Camil nickte.
    „Exakt.“
    Marnak schüttelte kurz den Kopf. „Würde dir bestimmt mal ganz gut tun, hier rauszukommen. Könntest ein wenig Sonne und Abwechslung vertragen.“
    Diese Bemerkung brachte Marnak einen typischen Camil-Blick ein, zusätzlich eine hochgezogene Augenbraue und die Zurechtweisung, dass die Feier „gegen Abend“ beginnen und sich über den Abend erstrecken würde und somit wohl kaum von Sonnenlicht gesprochen werden konnte. Abgesehen davon ging Camil nicht gerne auf solche Veranstaltungen, wie Marnak sehr wohl wusste.
    „Wie wär’s, wenn du an meiner Stelle hingehst?“, schlug Camil nun vor. Marnak lachte kurz auf.
    „Klar, mach‘ ich gerne, nur leider haben sie nicht mich, sondern dich eingeladen, und da du der zukünftige Leiter des Instituts bist und jeder, der sich ein wenig informiert hat, deine Gesichtszüge kennt, wird es mir wohl kaum gelingen, dass sie mich für dich halten.“
    Nach einem kurzen Moment, in dem sich beide erneut schweigend ansahen, nickte Camil zustimmend.
    „Bedauerlicherweise hast du damit vollkommen Recht.“
    Während Marnak groß und athletisch war, besaß Camil eine feingliedrige Statur. Während Marnak braunes kurzes Haar und graubraune Augen hatte, trug Camil seine silbrigweißen Haare lang und hatte cognacfarbene Augen. Während Marnaks Haut goldbraun wie leichte Sonnenbräune schimmerte, sah Camils blass aus wie Elfenbein. Es war somit völlig ausgeschlossen, dass jemand, der je ein Bild von Camil gesehen hatte, ihn und Marnak verwechseln konnte. Im Grunde war es generell sehr unwahrscheinlich, dass Camil überhaupt mit jemand anderem verwechselt werden würde, denn sein Aussehen war insgesamt eher ungewöhnlich.
 
ZWEI

Zwei Wochen später erschien Camil auf der Jubiläumsfeier von Rhonir, die in einer luxuriösen Stadtvilla mit großem Garten stattfand. Anders als das Institut und die zum Institut gehörende Ortschaft, in der nur Mitarbeiter des Instituts wohnten, residierten die Angehörigen aus anderen Bereichen und Schichten nach wie vor in verschiedenen Städten. Die Städte waren wesentlich weniger homogen und klar strukturiert als die Ortschaften der führenden Institute, dennoch war auch in ihnen eine innewohnende Ordnung zu erkennen. Es gab weder verwahrloste Viertel noch Vagabunden oder Bettler, denn jedem Bürger stand eine Grundversorgung innerhalb seiner Schicht zu. Der jeweilige Stadtrat achtete peinlich genau darauf, dass dieses Grundprinzip ihrer Gesellschaft auch wirklich erfüllt wurde. Dies betraf jedoch nur die männlichen Bürger, die Hom‘ri. Für die weibliche Bevölkerung, die Femera, galten diese Grundrechte nicht.
    Natürlich unterschieden sich die Schichten voneinander; einem gewöhnlichen Arbeiter standen weniger Mittel zur Verfügung als einem Großindustriellen, doch niemand war obdachlos oder musste um seine Existenz fürchten. Der Rat der Neun, wie die übergeordnete Regierung genannt wurde, war stolz darauf, diesen Status für die Gesellschaft erreicht zu haben. Sie sahen sich dadurch in ihren Bemühungen und Grundsätzen bestätigt, die sie über viele Jahre verfolgt und in die Wege geleitet hatten. Es war eine wahrhaft fortschrittliche und ausgewogene Gesellschaft, zumindest in ihren Augen.
    Als Camil nun von einem Angestellten in schwarzem Anzug ins Wohnzimmer geleitet wurde, nahm er mit einem gewissen Erstaunen die Größe des Raumes wahr. Das Zimmer, das vielmehr ein Saal war, erstreckte sich über die gesamte hintere Haushälfte, bot einen direkten Zugang zur Terrasse und in den daran anschließenden Garten.
    Camil ließ seinen Blick kurz über die Anwesenden schweifen. Ohne die vielen Gäste würde der Raum leer und überflüssig wirken. Nur solche großen Feiern gaben ihm eine Daseinsberechtigung, die über reinen Prunk und Protz hinausging. Camil mochte solche offen zur Schau gestellten Machtdemonstrationen nicht, da sie ihm zu plump und archaisch erschienen. Er selbst bevorzugte weit subtilere Methoden, um Wissen, Weisheit und Status zu demonstrieren, als ein gigantisches Wohnzimmer in einer übergroßen Villa.
    Der Hausangestellte hatte Camil zwar ins Zimmer gebracht, ihn daraufhin jedoch sich selbst überlassen. Camil überlegte gerade, ob er hinaus in den Garten gehen sollte, vielleicht war es dort ruhiger und weniger belebt, als ein sportlich wirkender, elegant gekleideter Mann auf ihn zukam.
„Es freut mich sehr, dass Sie es einrichten konnten, an meiner gemütlichen Feier teilzunehmen, Camil‘ri“, begrüßte ihn Rhonir.
    Camil lächelte flüchtig, mehr aus Höflichkeit, denn aus Freude und ergriff die ihm dargebotene Hand. Der Händedruck des Gastgebers war souverän, kurz und zugleich kräftig. Kein Mann, der sich durch unnötiges Zögern von Taten abbringen ließ. Rhonir hatte dunkles, zurückgekämmtes Haar, ebenfalls dunkle Augen, in denen ein wacher Ausdruck lag und einen Teint, der weder natürliches noch künstliches Sonnenlicht benötigte, um eine leichte Tönung zu erhalten.